VI. Gefesselt auf dem Schlingentisch


TAG ZWÖLF. Wie jeden Tag um diese Zeit wollte Peter L., ein ganz normaler Student aus Münster, sein harmloses Reha- Programm absolvieren, doch was an diesem Tag geschah entwickelte sich zu einem wahren Albtraum. Doch lassen wir ihn erzählen:
Eigentlich ist alles wie immer. Die Fahrgemeinschaft mit Frau Günther im Taxi funktioniert prima, auch wenn ich mir heute einen kleinen Rüffel abhole, weil ich erst zu verabredeten Zeit aus der Tür trete und nicht, wie anscheinend erwünscht, fünf Minuten früher. Die folgenden Neckereien wie „Gestern ist er wohl wieder spät in die Federn gekommen“ oder „Nächstes Mal möchte der Herr an der Tür abgeholt werden“, die Frau Günther lieber mit den Taxifahrer als mit mir bespricht, gehören ja zu einer solchen Beziehung dazu. Humor, da kann ich dem Augenzwinkern meiner Kollegin nur zustimmen, Humor gehört natürlich auch dazu – mehr als die gute Frau denkt! In der Umkleide wartet wie jeden Tag der süße Alte mit seinem neuen Knie auf mich, der sich immer wenn ich ihn sehe fast heimlich ein Bonbon in den Mund schiebt. Hier ist auch alles normal, wir besprechen wieder die kommenden Begegnungen der Fußballbundesliga und der Champions League, wobei die Rollen im Gespräch relativ klar verteilt sind. Nach dem üblichen „Ach, schon wieder hier“ und „wo geht’s denn jetzt hin?“ folgt seine Frage nach dem nächsten Gegner von Werder, Bayern, Schalke und der gesamten restlichen Fußballwelt. Ich freue mich riesig hier auch etwas für meinen Geist zu tun und zähle geduldig alle Spielpaarungen der nächsten Monate auf, nur um nach einem kurzen hin- und herwiegen des Kopfes sein Urteil zu vernehmen: „Na, das ham’ se auch noch nich’ gewonnen“. Das sagt er zu jeder Spielpaarung, ob es nun Werder gegen Aachen oder gegen Chelsea ist, Bayern gegen Moskau oder gar Gladbach gegen Hannover. Auch wenn die Favoritenrollen gar nicht eindeutig verteilt sind und es nicht klar wird, auf welche Mannschaft sich seine fachmännische Einschätzung bezieht ist die Antwort klar und immer gleich: „Das ham’ se auch noch nicht gewonnen.“ Natürlich nicht.
Später in der Muckibude bin ich kurzzeitig irritiert, als eine Pflegerin lautstark das am Boden liegende Opfer mit unverständlichen Fragen traktierte wie etwa „Wo ist dein Powerhouse“? Anscheinend war ich der einzige, der diese Geheimsprache nicht verstand, denn alle anderen radelten, stemmten und drückten mehr oder weniger verkrampft an ihren Maschinen herum, ohne sich auch nur im geringsten für das Powerhouse zu interessieren. Als das verlorene Haus wieder aufgetaucht und für die Beteiligten sichtbar geworden ist, konnte ich immer noch nichts erkennen und verlor das Interesse.
Soweit alles normal, keine große Aufregung. Diese bleibt auch aus, als ich mich auf den Schlingentisch in die Stufenlagerung begab, mit einem Heizkissen oder besser Wärmeträger, wie man in der Fachsprache sagt, am Rücken. Ich werde festgeschnallt, die Liege wird abgesenkt und von den Schultern abwärts hänge ich in der Luft. Das Buch in die Hand, dann ist die ganze Geschichte sehr entspannend. Das einige Problem dabei ist, dass der Raum etwas abseits liegt, die Uhr an der Wand nicht funktioniert und ich so festgeschnallt und aufgehängt recht unbeweglich bin. So liege ich also, entspanne und lese Seite um Seite, Kapitel um Kapitel und höre auf erste Anzeichen von Hunger, die mein Magen akustisch sendet. Hunger ist das Stichwort, denn als nächstes steht „Pause“ auf meinem Plan und das bedeutet Essen. Essen bedeutet heute Pizza. Also mein Magen knurrt weiter und ich denke, dass ich eigentlich genug gelesen habe und auch lang genug in der Luft gehangen habe. Doch Bene, der Fesselkünstler sieht das anscheinend anders und lässt mich noch etwas schmoren. Macht sich denn keiner Sorgen um mich? Es muss doch auffallen, wenn der „nette Junge Mann“ plötzlich nicht am Tisch sitzt und über das Wetter diskutiert. Oder Frau Günther, wenn sie allein im Taxi nach Hause fahren muss. Was bleibt mir anderes übrig als weiterzulesen und mir in der Hüftschnalle, die mich in der Luft hält, eine neue Kuhle zu formen, denn es wird wirklich unbequem. Und die Uhr geht nicht. Und ich habe Hunger. Und meine Pizza wird kalt. Und ich habe doch auch noch Krankengymnastik. Und der Raum ist so weit weg von allen anderen. Und ich bin bewegungsunfähig. Ich liege gefesselt in einem Kerker bei Neonlicht und leide vor mich hin. Langsam überkommt mich der Gedanke, dass das Wärmekissen über Nacht auskühlt und ich bei dem grellen Licht auch nicht schlafen kann, als plötzlich drei Personen gleichzeitig in die sorgenvolle Stille hineinplatzen. Nicht nur der Folterknecht Bene, auch meine Krankengymnastin und die Frau von der Essensausgabe. Ich wurde vergessen, dann vermisst und gesucht. Nach über einer Stunde, geplant war eine halbe, werde ich befreit! Die Pizza ist kalt, aber sonst ist alles gut. Noch drei Tage.

Keine Kommentare: