TAG VIER. „MTT“: medizinische Trainingstherapie, also der Fitnessraum. Ich gucke ins Leere, pumpe vor mich hin und denke halbherzig darüber nach, ob den vielleicht auch meine Oberarme von den ganzen Stabilisierungsübungen profitieren könnten. Graue Tristesse. Und plötzlich so etwas: Das ranzige Gedudel des Radios wird unterbrochen, nicht von Werbung oder Nachrichten - ja, der schwarze Schwan vom Aasee wird heute in den Zoo gebracht - sondern von Bruce Springsteen! Wahrhaftig, der Boss, hier bei mir. Schon nach zwei Akkorden erkenne ich das Lied: „Waiting on a sunny Day“, das kann kein Zufall sein, irgendjemand will mir ein Zeichen geben! Ich kenne den Text auswendig, trotzdem höre ich angestrengt zu, um das Zeichen zu erkennen. Vielleicht das:
„I thought I felt a sweet summer breeze/
Must have been you sighin' so deep”
Könnte passen, hier wird viel geseufzt, aber im Wortschatz meiner Leidensgenossen gibt es keine süße Brise, sondern nur Zug. Also Fenster zu! Das war nichts. Ich warte den Refrain ab, auch die zweite Strophe – nichts, was ich als Zeichen erkennen könnte. Jetzt aber, die dritte Strophe, ganz allein für mich geschrieben:
“Hard times baby, well they come to tell us all/
Sure as the ticking of the clock on the wall”
Das ist es! Die schweren Zeiten – keine Frage. Die tickende Uhr an der Wand – direkt vor mir oder ist damit das gleichmäßige Pumpen der Stromtherapiemaschine gemeint? Egal, wahrscheinlich beides, damit ich dieses Zeichen auch wirklich erkenne. Und, wie geht es weiter?
“Your smile, girl, brings the morning light to my eyes”
Oh, nein. Damit kann ja nur wieder meine kleine osteuropäische Freundin gemeint sein, die mich zur Begrüßung im Bewegungsbad neuerdings gleich zweimal grüßt. Wahrscheinlich kommt sie durch das ekelhaft warme, therapeutische Wasser erst so richtig in Fahrt. Auf dieses Zeichen hätte ich auch verzichten können. Ihre Taktik habe ich jetzt aber durchschaut. Sie lockt ihr Opfer – diesmal eine dritte im Bunde, die sich die letzten beiden Tage sehr bedeckt gehalten hat – mit der harmlosen Frage „Wie isses denn?“, nur um nach einer verhaltenden Antwort loszulegen und ihr Opfer wieder mit ihrer Krankenakte zu erschlagen. Die heutige Variation der Geschichte besteht darin, dass auch die Krankenakte ihres Mannes zur Sprache kommt. Mein anfängliches Mitleid für die Angesprochene erweist sich als völlig überflüssig: Sie scheint sich in den letzten Tagen nur geschont zu haben und hält dagegen! Und nicht nur das, sie hebt das Gespräch auf eine ganz andere Ebene. Jetzt werden die verschiedenen Ärzte und Rehazentren in Münster diskutiert. Ich halte mich vornehm zurück und merke, dass die kleine Osteuropäerin, die ihren Kopf gerade so über Wasser halten kann, ganz verblüffende Ähnlichkeit mit einer Schildkröte hat.
Die Gesprächsführung lässt sie sich jedoch nicht so ohne weiteres abnehmen und schlägt bei Mittagessen zurück. Ich schaufele eilig die schon klein geschnittenen Nudeln in mich hinein und höre von rechts eine spannenden Aufzählung, was genau sie in ihren ganzen Leben alles so hochgehoben hat, vom Schulranzen bis zu den Akten im Büro – eine beeindruckende Leistung, ich bin fasziniert! Ich erfreue mich an der Schildkröten-Ähnlichkeit und gucke herum, wer noch so da ist. Mir gegenüber nippt eine süße alte Dame an einer Suppe und ist beeindruckt, welche Mengen „die jungen Leute“ so essen können. Daneben ein alter Matrose, der die gesamten Unterarme tätowiert hat und über 100 Kilo gewogen hat, wovon man aber nichts sieht. Jedenfalls hat er Bandscheibe, seine Frau hat Hüfte. Diese schneidigen Formulierungen können nur noch vom Imbissdeutsch übertroffen werden: „Ich bin das Schnitzel“. Um die Runde zu komplettieren sitzt neben mir noch eine Frau, von der ich aber nur Geräusche vernehme, auf die nach meiner Erfahrung Dittsches Hinweis „das perlt“ folgen müssten. Guten Appetit! Ich sage weiterhin nichts, nicke freundlich und denke „Durchhalten Peter, achte nicht auf Zeichen. Ohren zu und durch“. Und was gibt mir Bruce Springsteen noch mit auf den Weg? Ich muss lange im Gedächtnis kramen und darauf zu kommen: „No surrender“! Noch 11 Tage.
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