III. Das Auge geht vor

TAG FÜNF. Die wichtigste Nachricht des Tages: Der Seebär mit den tätowierten Armen heißt Koslowski, ein Name, als würde Helge Schneider Regie führen. Herr Koslowski also. Er musste am Freitag schon zum Augenarzt. Den Gefallen nach dem Grund für den Besuch zu fragen hatte ich ihm nicht getan. Heute konnte ich mich dann nicht mehr wehren.
Völlig hilflos lag ich rücklings auf dem Boden mit den Beinen in der Luft und stemmte gleichzeitig mit Hilfe des Seilzugs armselige 15 Kilo in die Luft. Dann setzt sich der zu dem Zeitpunkt noch namenlose Seebär neben mich auf einen Gymnastikball, hält sich an der Sprossenwand fest und hüpft wie ein kleines Kind auf und ab. Für solche Aktionen hätte Zappelphilipp direkt ein paar hinter die Ohren bekommen. Hier handelt es sich aber nicht um einen hyperaktives Kind, sondern um einen geschätzten Mittsiebziger, und das auch noch aus der Bodenperspektive. Ich muss so herzlich in mich hinein lachen, dass das Gewicht mit einem lauten Scheppern zurück auf die anderen Scheiben fällt und meine Arme zwischen meinem Kopf und dem Seilzug platt auf dem Boden liegen. Herr Koslowski erschrickt kurz, freut sich aber dann sehr mich zu sehen und hat heute wiedereinmal die kneipige Heiserkeit über die recht verwaschene Stimme gelegt. Ohne weitere Umschweife erfahre ich, dass er heute die Krankengymnastik ausfallen lassen muss, „weil das Auge geht vor“. Ich bin mir nicht sicher, ob es nur im wörtlichen oder übertragenen Sinne gemeint war, jedenfalls kommt ein Auge tatsächlich hervor und ist schon erkennbar größer als das andere. Die ungewollte Ironie der Frage „Welches ist denn normal?“ von einer Tischnachbarin beim Mittagessen überhört er charmant und hat auch schon eine Diagnose parat. Beim Krustenbraten erfahre ich nun also schon zum dritten Mal, dass Herr Koslowski schon im Januar ein Geschwulst hinter dem Auge hatte und dies nun wahrscheinlich auch wieder operiert werden muss. Sein erschrockenes Gesicht verleit der ganzen Geschichte eine Dramatik, die ich über dem Essen fast nicht wahrgenommen hätte.
Ich bin beeindruckt, wie konsequent sich fast alle Gespräche um Krankheiten und Verletzungen drehen können, und wenn die eigenen Molesten nicht ausreichen um das Gespräch im Gang zu halten werden auch gerne einmal Erfahrungen von Verwandten und Freunden herbeigezogen. Wie gütig von Focus gerade jetzt „Der gesunde Rücken“ zum Titelthema zu küren. Die sensationellen Überschriften „Das empfindliche Gerüst – die Wirbelsäule“ oder noch einfallsreicher „Das Kreuz mit dem Kreuz“ bilden jedoch keine Diskussionsgrundlage, hier sitzen nämlich nur Experten zusammen, die nach dem Motto „learning by hearing“ ausgebildet wurden. Ich schleiche mich möglichst unauffällig hinaus und widme mich anderen Themen: Die Neue Frau berichtet vom Babyglück im dänischen Königshaus. Auch in Spanien liegt der gesamte Hofstaat „dem strahlenden Lächeln“ der Thronfolgerin zu Füßen. Unterbrochen wird meine Lektüre nur von der „dritten im Bunde“, die heute ihren Abschied mit besonders lauten Gekreische feiert und dies dem gesamten Haus mitteilt – wie der Herr Koslowski auch würde sie gern länger bleiben, darf aber leider nicht. Mir soll das recht sein. Hoffentlich werde ich am Ende nicht auch auf eine „Verlängerung“ hoffen.
Zurück zum Wesentlichen: Arztbesuch! Er wirft keinen Blick in meine Akte, ich erzähle fast schon routiniert die gesamte Geschichte, er dreht und drückt und ich sage aua. Dann nuschelt er in einem unglaublichen Tempo eine Mischung aus medizinischen Fachbegriffen, Abkürzungen und Zahlen in ein Diktiergerät. Auf meinen ungläubigen Blick, was man mit so einer Aufnahme noch anfangen soll erwidert er nur: „Ich fasse mich gern kurz. Und deutlich.“ Da ist er aber auch der einzige hier. Noch 10 Tage.

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