TAG VIERZEHN. Herbert Grönemeyer singt, dass man auf Freunde zählen kann. „Freunde in der Not“, weiß Helge Schneider, „Freunde brauchen von andern kein Brot“. Auch Matthias Reim und Pur schätzen Freundschaften und sogar Franz Beckenbauer ist klar, dass gute Freunde von niemandem getrennt werden können. Vom Kaiser zur Queen ist es auch nicht weit, deshalb nur kurz nebenbei: Laut Das neue Blatt hat auch sie einen Bandscheibenvorfall und leidet unter höllischer Schmerzen. Die Gute würde auch in diesen Laden prima hineinpassen! Doch zurück zu den guten Freunden. Bei aller Freundschaft kann man doch niemandem zumuten ins Bewegungsbad oder auf den Schlingentisch mitzukommen. Also muss ich mir wohl oder übel innerhalb der Kaserne Verbündete suchen. Na dann mal los!
Da wäre zunächst der immerskeptische Fußballfachmann, aber die Gespräche mit ihm könnten auf Dauer etwas uninspiriert werden. Frau Günther, mit der ich die Fahrgemeinschaft bilde? Nicht übel, aber etwas schreckhaft und humorlos. Nachdem sie ein zugegeben gewagtes Manöver der Taxifahrerin mit einem spitzen Schrei und Festklammern an ihrem Sitz kommentierte, begründete die miserable Taxifahrerin ihren Fahrstil: So würden wir wenigsten wach und munter bei der Reha erscheinen. Das fand Frau Günther im Gegensatz zu mir gar nicht lustig. Auch der Simulant Herr Tebel scheidet als potentieller Freund aus: Wenn er so vor mir läuft fällt auf, dass er seiner Krücke auf der falschen Seite benutzt, gar nicht auf der Seite seiner Beschwerden – meine Krankengymnastin bestätigt meine Annahme mit einem prustenden Lachen. Zudem ist er ja auch ein halbes Jahrhundert älter ich. Aus der Generation kommt auch die kleine osteuropäische Schildkröte, die nach eine Woche Abwesenheit zu meinem Entsetzen wieder aufgetaucht ist. So wie sie mich anstrahlt scheint sie mich wirklich vermisst zu haben. Ich grüße kurz und sachlich und gehe sehr bestimmt weiter zu meinem Stammplatz im Bewegungsbad. Auch sie wäre als dauerhafte Verbündete nicht zu ertragen. Vielleicht gegenüber: Herr Legros, der sich, aufgrund seiner 28 Jahre im Polizeidienst, nach eigenen Angaben die Reha mehr als verdient hat, absolviert seine Übungen synchron mit Frau Klaas. Sie wiederum ist unerträglich stolz, auf ihr Sportstudium, welches man ihr nicht jedoch ansieht, noch ein duales Studium im Betrieb ihrer Eltern zu satteln. Wie die beiden im Gleichschritt durch das Becken waten wirkt schon recht vertraut, deshalb verwundert es auch nicht, dass Manfred und Denise sich duzen. Ich halte mich da lieber vornehm heraus!
Übrig bleibt also nur noch der etwas verplante Typ in meinem Alter (!), der seine Übungen für sich, sehr konzentriert und ohne Plauderei mit anderen macht – sehr sympathisch. Irgendwann kommt er auf seinem imaginären Fahrrad vorbeigefahren und wir müssen uns gegenseitig auslachen, wie wir beide mit angestrengten Gesichtern und Schwimmhilfen gegen das Untergehen ankämpfen – in einem 1,3 Meter tiefen Becken! Er hat sich beim Fußballspielen „Kreuzband geholt“, und so ist das erste Thema vorgegeben: Ich kläre ihn über die Großartigkeit des ruhmreichen SV Werder auf. Danach werden die verschiedenen Torturen der Reha diskutiert, das sorgt für so viel Erheiterung, dass der Pfleger vom Beckenrand anbietet zu unserem Sit-In noch ein paar Cocktails zu reichen. Ist er beleidigt, dass hier ausnahmsweise mal eine Party ohne ihn stattfindet? „Der Kreuzbandriss“, so kennt man sich hier, wiederum berichtet von höllischen Qualen bei der Krankengymnastik, so dass er schon darum gebeten hat in einer Einzelzelle behandelt zu werden, um die anderen Patienten von seinen schmerzerfüllten Schreien zu verschonen. Ich halte das für die übliche Übertreibung bei Gesprächen der Patienten untereinander, werde aber eines besseren belehrt. Während ich mich bei der Krankengymnastik bequem massieren lasse, werde ich Zeuge eines äußerst unterhaltsamen Hörspiels: Hinter der Stellwand, die meine Liege von der anderen trennt, hört man die Krankengymnastin in trockenem Befehlston „Weiter strecken, das ist noch gar nichts!“ und als Antwort unterdrückte Schreie und schmerzvolle Seufzer. Die Anweisungen der Pflegerin variieren nur minimal „Los jetzt, noch 20 Grad mehr im Knie“ oder „Stell dich nicht so an“ und lassen mich breit grinsen. Das wird aber sofort bestraft, denn die Folterung nebenan scheinen die Hände auf meinem Rücken auf falsche Gedanken zu bringen. Plötzlich ist der betroffene Nerv gefunden, fest gedrückt und ich gehe fast an die Decke vor Schmerz. Ich versuche gerade noch keine animalischen Schmerzlaute von mir zu geben, da werde ich mit folgendem Kommentar entgültig zur Strecke gebracht: „Wollen wir doch mal sehen, was wir aus dir so herausholen!“ Na prima, wie sagt man unter Freunden noch, „geteiltes Leid ist halbes Leid“. Noch einen Tag. Und zehn Tage Verlängerung.
VI. Gefesselt auf dem Schlingentisch

TAG ZWÖLF. Wie jeden Tag um diese Zeit wollte Peter L., ein ganz normaler Student aus Münster, sein harmloses Reha- Programm absolvieren, doch was an diesem Tag geschah entwickelte sich zu einem wahren Albtraum. Doch lassen wir ihn erzählen:
Eigentlich ist alles wie immer. Die Fahrgemeinschaft mit Frau Günther im Taxi funktioniert prima, auch wenn ich mir heute einen kleinen Rüffel abhole, weil ich erst zu verabredeten Zeit aus der Tür trete und nicht, wie anscheinend erwünscht, fünf Minuten früher. Die folgenden Neckereien wie „Gestern ist er wohl wieder spät in die Federn gekommen“ oder „Nächstes Mal möchte der Herr an der Tür abgeholt werden“, die Frau Günther lieber mit den Taxifahrer als mit mir bespricht, gehören ja zu einer solchen Beziehung dazu. Humor, da kann ich dem Augenzwinkern meiner Kollegin nur zustimmen, Humor gehört natürlich auch dazu – mehr als die gute Frau denkt! In der Umkleide wartet wie jeden Tag der süße Alte mit seinem neuen Knie auf mich, der sich immer wenn ich ihn sehe fast heimlich ein Bonbon in den Mund schiebt. Hier ist auch alles normal, wir besprechen wieder die kommenden Begegnungen der Fußballbundesliga und der Champions League, wobei die Rollen im Gespräch relativ klar verteilt sind. Nach dem üblichen „Ach, schon wieder hier“ und „wo geht’s denn jetzt hin?“ folgt seine Frage nach dem nächsten Gegner von Werder, Bayern, Schalke und der gesamten restlichen Fußballwelt. Ich freue mich riesig hier auch etwas für meinen Geist zu tun und zähle geduldig alle Spielpaarungen der nächsten Monate auf, nur um nach einem kurzen hin- und herwiegen des Kopfes sein Urteil zu vernehmen: „Na, das ham’ se auch noch nich’ gewonnen“. Das sagt er zu jeder Spielpaarung, ob es nun Werder gegen Aachen oder gegen Chelsea ist, Bayern gegen Moskau oder gar Gladbach gegen Hannover. Auch wenn die Favoritenrollen gar nicht eindeutig verteilt sind und es nicht klar wird, auf welche Mannschaft sich seine fachmännische Einschätzung bezieht ist die Antwort klar und immer gleich: „Das ham’ se auch noch nicht gewonnen.“ Natürlich nicht.
Später in der Muckibude bin ich kurzzeitig irritiert, als eine Pflegerin lautstark das am Boden liegende Opfer mit unverständlichen Fragen traktierte wie etwa „Wo ist dein Powerhouse“? Anscheinend war ich der einzige, der diese Geheimsprache nicht verstand, denn alle anderen radelten, stemmten und drückten mehr oder weniger verkrampft an ihren Maschinen herum, ohne sich auch nur im geringsten für das Powerhouse zu interessieren. Als das verlorene Haus wieder aufgetaucht und für die Beteiligten sichtbar geworden ist, konnte ich immer noch nichts erkennen und verlor das Interesse.
Soweit alles normal, keine große Aufregung. Diese bleibt auch aus, als ich mich auf den Schlingentisch in die Stufenlagerung begab, mit einem Heizkissen oder besser Wärmeträger, wie man in der Fachsprache sagt, am Rücken. Ich werde festgeschnallt, die Liege wird abgesenkt und von den Schultern abwärts hänge ich in der Luft. Das Buch in die Hand, dann ist die ganze Geschichte sehr entspannend. Das einige Problem dabei ist, dass der Raum etwas abseits liegt, die Uhr an der Wand nicht funktioniert und ich so festgeschnallt und aufgehängt recht unbeweglich bin. So liege ich also, entspanne und lese Seite um Seite, Kapitel um Kapitel und höre auf erste Anzeichen von Hunger, die mein Magen akustisch sendet. Hunger ist das Stichwort, denn als nächstes steht „Pause“ auf meinem Plan und das bedeutet Essen. Essen bedeutet heute Pizza. Also mein Magen knurrt weiter und ich denke, dass ich eigentlich genug gelesen habe und auch lang genug in der Luft gehangen habe. Doch Bene, der Fesselkünstler sieht das anscheinend anders und lässt mich noch etwas schmoren. Macht sich denn keiner Sorgen um mich? Es muss doch auffallen, wenn der „nette Junge Mann“ plötzlich nicht am Tisch sitzt und über das Wetter diskutiert. Oder Frau Günther, wenn sie allein im Taxi nach Hause fahren muss. Was bleibt mir anderes übrig als weiterzulesen und mir in der Hüftschnalle, die mich in der Luft hält, eine neue Kuhle zu formen, denn es wird wirklich unbequem. Und die Uhr geht nicht. Und ich habe Hunger. Und meine Pizza wird kalt. Und ich habe doch auch noch Krankengymnastik. Und der Raum ist so weit weg von allen anderen. Und ich bin bewegungsunfähig. Ich liege gefesselt in einem Kerker bei Neonlicht und leide vor mich hin. Langsam überkommt mich der Gedanke, dass das Wärmekissen über Nacht auskühlt und ich bei dem grellen Licht auch nicht schlafen kann, als plötzlich drei Personen gleichzeitig in die sorgenvolle Stille hineinplatzen. Nicht nur der Folterknecht Bene, auch meine Krankengymnastin und die Frau von der Essensausgabe. Ich wurde vergessen, dann vermisst und gesucht. Nach über einer Stunde, geplant war eine halbe, werde ich befreit! Die Pizza ist kalt, aber sonst ist alles gut. Noch drei Tage.
V. Man weiß ja nie

TAG ZEHN. Glücklich der Reha, dem Bewegungsbad und den Zeitschriften Gala, Neue Revue oder Das goldene Blatt entflohen zu sein setze ich mich zu Hause mit einem Tee in die Küche und versuche aus einem großen Stapel Zeitungen etwas Brauchbares herauszufischen. Völlig unschuldig greife ich die gestrige Ausgabe der Bild am Sonntag. Soll das schon wieder ein Zeichen für mich sein? Auf übernatürliche Zeichen wollte ich ja eigentlich nicht mehr achten, Bruce Springsteen war in der Hinsicht wenig aufbauend. Trotzdem, nach fünf Stunden in der Reha ist man froh über jede Ablenkung. Ich mache einen neuen Versuch machen und probiere es mit den Sternen. Zwar keine „Stars und Sternchen“, wie sie in Bunte zu finden sind, aber ein Horoskop. Das passt auf jeden Fall bestens in die Reha-Umgebung als Springsteen, noch dazu wenn es sich um ein Sporthoroskop handelt. Doch schon beim ersten Satz kommen mir Zweifel: „Der Löwe braucht den Wettkampf wie die Luft zum Atmen“. Handelt das von mir? Naja, weiterlesen. Der Löwe zieht „exklusive Sportarten“ vor: Golf, Segeln, Polo; die Skepsis blieb bestehen. Immerhin, zu meiner Beruhigung steht auch Skifahren in der Liste. Aber dann folgt ein Satz, der meine Einstellung zum Aberglauben der Horoskope grundlegend ändern soll: „Für den Alltag hält er sich mit einer speziellen Gymnastik fit, zwar nicht gern, aber aus tiefster Überzeugung, dass sonst der Rücken schmerzt.“ Wie wahr, wie wahr. Da hat mir BamS aus der Seele gesprochen – die Frage, ob das ein gutes oder schlechtes Zeichen ist lasse ich zunächst außer Acht, um weiterzulesen. „Im Fitness-Center nimmt er den Kampf mit den Maschinen auf. Überflüssig zu sagen, wer dabei gewinnt.“ Jawohl, 30 Kilo stemme ich am Seilzug – und wenn ich wollte könnte ich noch viel mehr! Die Analyse der BamS überzeugt mich vollends. Ich lese begeistert weiter: Der Bereich Sport ist abgehakt, nun geht es an die Voraussagungen. Ich wachse mit meinen Aufgaben und kann mich langsam an neue Herausforderungen wagen, heißt es zum Thema Beruf. So direkt hätte ich das Stemmen von Gewichten nicht als Beruf betrachtet, aber wenn ich es mir recht überlege verbringe ich im Moment eine ganze Menge Zeit damit. Jetzt aber mal zu den wirklich wichtigen Themen: Gesundheit. Mir wird versprochen, dass ein altes Zipperlein ausheilt – das wird auch höchste Zeit! Und die Liebe? „Ein gemütlicher und inniger Wochenbeginn“. Ja, um Punkt zehn Uhr wurde ich von der Taxifahrerin abgeholt, die extrem viel redet, dafür aber wenig verständlich ist. Ein Glück, dass die gute Frau Günther noch mit im Auto saß, wir haben schon eine richtige Fahrgemeinschaft gebildet! Das geht so weit, dass ich Frau Günther im Bewegungsbad schon die mal helfe, wenn sie mit den Schaumstoffnudeln überfordert ist. Im Gegensatz zu Frau Günther wirkt eine andere alte Dame im Bad eher unterfordert, während sie, auf der Nudel wie auf einem Schaukelpferd reitend, durch das Becken schiebt. Die unbedarfte Äußerung der Pflegerin über die Lautstärke im Bad hat sie anscheinend als Herausforderung aufgenommen. Der eigentlich harmlose Satz „Ist ja ganz schon ruhig hier heute“ mag für den ungeschulten Hörer eher harmlos klingen, zumal auch nur vier Personen im Wasser herumhampeln. Wenn sie nur geahnt hätte, was sie mit ihrem Satz auslösen würde. Die Reiterin beginnt sofort diesen konzentrierten Zustand zu ändern und berichtet aus ihrem, dem Leben ihrer gesamten Familie und überhaupt zu erzählen. Die Gründe, warum sie nie richtig schwimmen gelernt hat habe ich leider ebenso vergessen, wie das Jahr, indem sie die Schule gewechselt hat, jedenfalls gelangt sie in ihrem Vortrag auch irgendwie zum Amoklauf von Emsdetten. Über die Tragik dessen sind wir uns alle einig, der Herr Legros, seit 28 Jahren Polizeibeamter, kann sogar schon ein präzises Bild der gesellschaftlichen Zustände beschreiben: „Jetzt haben wir entgültig amerikanische Zustände!“ Aufgrund einer gewissen Betroffenheit und generellen Unlust zur vernünftigen Diskussion verkneife ich mir die Frage nach dem Maßstab der „amerikanischen Verhältnisse“. Frau Kolpig ist gedanklich sogar schon bei der Prävention. Mit Killerspielen hält sie sich gar nicht auf, sondern betont, dass sie ja bei Computern immer schon skeptisch war. Wenn das keine Lösung ist! Das allgemeine Misstrauen gegenüber der medialen Berichterstattung mit allen Gerüchten über Motive und Tathergang wird von allen Seiten mit einem vielsagenden „Man weiß ja nie“ ausgedrückt. Wunderschön, wie jeder diesen Satz wiederholt um schon beim Sprechen fast schon vergessen hat, worum es eigentlich geht.
Beim Mittagessen werden dann wieder seichtere Themen angesprochen. Frau Kolpig und Frau Busemeier können sich eine geschlagene Viertelstunde über die Wetterlage auslassen, während ich einer ähnlich unterhaltsamen CD lausche. Hits wie „Spaniens Gitarren“, „Lady Sunshine und Mister Moon“ oder „Liebling, mein Herz lässt dich grüßen“ reihen sich da aneinander. Da bin ich doch froh und erleichtert, wenn ich nach der Taxifahrt mit Frau Günther nun in der Küche sitze und die BamS auf den Haufen mit Altpapier werfen kann. Ein letzter Blick auf das Horoskop für Dienstag: „Es prickelt permanent“. Noch fünf Tage.
IV. Tschüßchen
TAG SIEBEN. Nun ist es soweit: Ich habe auch die letzte Fahne, die mich zumindest subjektiv von den anderen Patienten abgrenzt, eingeholt. Ich lasse mich jetzt mit dem Taxi zur Reha und zurück bringen! Es war immer ein beruhigendes Gefühl nach fünf Stunden warmer Bäder, Wartezeiten und Mittagessen mit einer anderen Generation sich mit dem Fahrrad wieder unter die Studenten zu mischen. Erst moglte ich mich unter die Mediziner, dann die FH- Studenten und dann war ich auch schon wieder auf der Promenade und bin nicht weiter aufgefallen. Damit ist jetzt Schluss! Ich gehe aus der Haustür, steige ins Taxi und bin sofort einer von „denen“. Zum Beispiel der Seebär Koslowski. Mit dem Auge muss er bald wieder nach Münster-Hiltrup zur weiteren Untersuchung. Meine Sorgen, dass ihn die vielen Arztbesuche nerven könnten, kann er sofort zerstreuen – ihm gefällt das prima, er hat auch sonst nicht vor!
Der Mann hat es mir richtig angetan. Und das obwohl wir noch gar nicht zusammen im Bewegungsbad waren! Dafür radeln wir jetzt gemeinsam, oder besser nebeneinander durch den Fitnessraum. Während ich unbedarft drauf los trete muss Herr Koslowski erst einmal sitzen. Wenn es nach einer Verschnaufpause dann losgehen soll wird der Coach mit einem charmanten „Ey“ herbeigerufen. Etwas irritiert von dem Befehlston stellt der Aufpasser in seiner Sportuniform – Warum eigentlich, wenn er doch sowieso nur den anderen bei der Arbeit zuguckt? – das Fahrrad für Herrn Koslowski passend ein. Dieser gibt ihm anstatt eines Dankeschöns nur ein weiteres schneidiges „Ey“ mit, gefolgt von der Feststellung „Hier stimmt was nicht!“, alles natürlich auch vom anderen Ende des Raumes bestens zu verstehen. Zwischen Nuscheln und Gebrüll scheint es in seiner Stimme wenig Spielraum zu geben. Der Aufpasser dreht sich lächelnd um und klärt den Brüllaffen über eine kleine Gewichtssteigerung auf. Soviel Humor hätte ich dem Pfleger gar nicht zugetraut; zuvor ist er mir nur bei dem betont lässigen Handschlag mit den wenigen aufgefallen, die so aussehen, als wenn sie nach der Behandlung auch wieder Sport treiben wollen.
Mein Humor scheint sich jedoch auch der Umgebung anzupassen, denn wie gestern kann ich mich immer noch sehr über das Hüpfen von Herrn Koslowski freuen. Nach etwa zehn Hüpfern auf den Gymnastikball mit den Händen an der Sprossenwand braucht er aber auf die Anstrengung erst einmal ein paar kräftige Züge Asthmaspray! Ich nicke ihm freundlich zu und gehe zur nächsten Übung, in direkter Umgebung einer weiteren Badebekanntschaft.
Da ist es schon wieder, das Problem des ewigen Grüßens. Im Laufe eines Tages in der Reha läuft man ständig den gleichen Leuten über den Weg: Auf dem Weg aus der Umkleide zur „Phy“, dann zurück zur „KG“ und weiter zur „MTT“. Im Bewegungsbad, beim Mittagessen, im Wartebereich, wo sowieso alle grüßen, die vorbeikommen. Zusätzlich grüßen die Pfleger konsequent den ganzen Tag hindurch. Und weil alle so oft und so viele Leute Hallo sagen, verliert man den Überblick und nickt aus lauter Hilflosigkeit den gleichen Leuten dreimal freundlich zu. Dem muss man doch ein Ende setzen, und ich fange jetzt damit an! Ich gehe langsam auf das nächste Gerät zu, setze den Tunnelblick auf und werde an der Station mit einem freundlichen Hallo begrüßt. Ich gucke hoch, versuche bis zuletzt nichts zu sagen und dann rutscht mir doch ein kleines Hallo heraus. Ich bin eindeutig schon zu lange hier!
Aber auch die Verabschiedung ist ein Thema für sich. Ein „Tschüß“ beim Verlassen der Umkleide ist ja noch im Rahmen, aber muss das dann auch noch nach dem Bewegungsbad sein? Und überhaupt, man schlürft doch in spätesten einer halben Stunde wieder über den Flur und ist sich nicht ganz sicher, ob man die Damen mit Gehilfen oder die Herren auf Krücken ohne ein schlechtes Gewissen zu bekommen überholen darf.
Zumindest die Lösung des Verabschiedungsproblems erfahre ich beim Mittagessen. Nur nebenbei: Ich habe langsam den Verdacht, dass Heike, die das essen aus dem Bistro nebenan holt und serviert, extra große Portionen für mich bestellt. Oder liegt es nur daran, dass meine Leidensgenossinnen entweder einen Salat oder nur einen Kinderteller bestellt haben? Egal, irgendwann bin ich mit meinem Curryhühnchen und der Extraportion Reis fertig und will mich auf dem Weg machen, da ist eine Verabschiedung fast unumgänglich. Für einen großen Abschied reicht es aber noch nicht, immerhin habe ich noch drei Stunden lang die Chance, die Leute, von denen ich mich verabschiede, auf dem Flur wiederzutreffen. Heike, ungefähr 50 Jahre und mit einem extrem breiten Berlinerisch ausgestattet, ist mir in der Hinsicht um längen voraus: „Ick sach ma’ Tschüßchen!“ Ditte sach ick ooch, steige ins Taxi und vor meiner Haustür bringt mir der Taxifahrer dann noch eine neue Vokabel bei: „Bis Andernmal“! Da bleibe ich doch lieber beim „Tschüßchen“. Noch acht Tage.
Der Mann hat es mir richtig angetan. Und das obwohl wir noch gar nicht zusammen im Bewegungsbad waren! Dafür radeln wir jetzt gemeinsam, oder besser nebeneinander durch den Fitnessraum. Während ich unbedarft drauf los trete muss Herr Koslowski erst einmal sitzen. Wenn es nach einer Verschnaufpause dann losgehen soll wird der Coach mit einem charmanten „Ey“ herbeigerufen. Etwas irritiert von dem Befehlston stellt der Aufpasser in seiner Sportuniform – Warum eigentlich, wenn er doch sowieso nur den anderen bei der Arbeit zuguckt? – das Fahrrad für Herrn Koslowski passend ein. Dieser gibt ihm anstatt eines Dankeschöns nur ein weiteres schneidiges „Ey“ mit, gefolgt von der Feststellung „Hier stimmt was nicht!“, alles natürlich auch vom anderen Ende des Raumes bestens zu verstehen. Zwischen Nuscheln und Gebrüll scheint es in seiner Stimme wenig Spielraum zu geben. Der Aufpasser dreht sich lächelnd um und klärt den Brüllaffen über eine kleine Gewichtssteigerung auf. Soviel Humor hätte ich dem Pfleger gar nicht zugetraut; zuvor ist er mir nur bei dem betont lässigen Handschlag mit den wenigen aufgefallen, die so aussehen, als wenn sie nach der Behandlung auch wieder Sport treiben wollen.
Mein Humor scheint sich jedoch auch der Umgebung anzupassen, denn wie gestern kann ich mich immer noch sehr über das Hüpfen von Herrn Koslowski freuen. Nach etwa zehn Hüpfern auf den Gymnastikball mit den Händen an der Sprossenwand braucht er aber auf die Anstrengung erst einmal ein paar kräftige Züge Asthmaspray! Ich nicke ihm freundlich zu und gehe zur nächsten Übung, in direkter Umgebung einer weiteren Badebekanntschaft.
Da ist es schon wieder, das Problem des ewigen Grüßens. Im Laufe eines Tages in der Reha läuft man ständig den gleichen Leuten über den Weg: Auf dem Weg aus der Umkleide zur „Phy“, dann zurück zur „KG“ und weiter zur „MTT“. Im Bewegungsbad, beim Mittagessen, im Wartebereich, wo sowieso alle grüßen, die vorbeikommen. Zusätzlich grüßen die Pfleger konsequent den ganzen Tag hindurch. Und weil alle so oft und so viele Leute Hallo sagen, verliert man den Überblick und nickt aus lauter Hilflosigkeit den gleichen Leuten dreimal freundlich zu. Dem muss man doch ein Ende setzen, und ich fange jetzt damit an! Ich gehe langsam auf das nächste Gerät zu, setze den Tunnelblick auf und werde an der Station mit einem freundlichen Hallo begrüßt. Ich gucke hoch, versuche bis zuletzt nichts zu sagen und dann rutscht mir doch ein kleines Hallo heraus. Ich bin eindeutig schon zu lange hier!
Aber auch die Verabschiedung ist ein Thema für sich. Ein „Tschüß“ beim Verlassen der Umkleide ist ja noch im Rahmen, aber muss das dann auch noch nach dem Bewegungsbad sein? Und überhaupt, man schlürft doch in spätesten einer halben Stunde wieder über den Flur und ist sich nicht ganz sicher, ob man die Damen mit Gehilfen oder die Herren auf Krücken ohne ein schlechtes Gewissen zu bekommen überholen darf.
Zumindest die Lösung des Verabschiedungsproblems erfahre ich beim Mittagessen. Nur nebenbei: Ich habe langsam den Verdacht, dass Heike, die das essen aus dem Bistro nebenan holt und serviert, extra große Portionen für mich bestellt. Oder liegt es nur daran, dass meine Leidensgenossinnen entweder einen Salat oder nur einen Kinderteller bestellt haben? Egal, irgendwann bin ich mit meinem Curryhühnchen und der Extraportion Reis fertig und will mich auf dem Weg machen, da ist eine Verabschiedung fast unumgänglich. Für einen großen Abschied reicht es aber noch nicht, immerhin habe ich noch drei Stunden lang die Chance, die Leute, von denen ich mich verabschiede, auf dem Flur wiederzutreffen. Heike, ungefähr 50 Jahre und mit einem extrem breiten Berlinerisch ausgestattet, ist mir in der Hinsicht um längen voraus: „Ick sach ma’ Tschüßchen!“ Ditte sach ick ooch, steige ins Taxi und vor meiner Haustür bringt mir der Taxifahrer dann noch eine neue Vokabel bei: „Bis Andernmal“! Da bleibe ich doch lieber beim „Tschüßchen“. Noch acht Tage.
III. Das Auge geht vor
TAG FÜNF. Die wichtigste Nachricht des Tages: Der Seebär mit den tätowierten Armen heißt Koslowski, ein Name, als würde Helge Schneider Regie führen. Herr Koslowski also. Er musste am Freitag schon zum Augenarzt. Den Gefallen nach dem Grund für den Besuch zu fragen hatte ich ihm nicht getan. Heute konnte ich mich dann nicht mehr wehren.
Völlig hilflos lag ich rücklings auf dem Boden mit den Beinen in der Luft und stemmte gleichzeitig mit Hilfe des Seilzugs armselige 15 Kilo in die Luft. Dann setzt sich der zu dem Zeitpunkt noch namenlose Seebär neben mich auf einen Gymnastikball, hält sich an der Sprossenwand fest und hüpft wie ein kleines Kind auf und ab. Für solche Aktionen hätte Zappelphilipp direkt ein paar hinter die Ohren bekommen. Hier handelt es sich aber nicht um einen hyperaktives Kind, sondern um einen geschätzten Mittsiebziger, und das auch noch aus der Bodenperspektive. Ich muss so herzlich in mich hinein lachen, dass das Gewicht mit einem lauten Scheppern zurück auf die anderen Scheiben fällt und meine Arme zwischen meinem Kopf und dem Seilzug platt auf dem Boden liegen. Herr Koslowski erschrickt kurz, freut sich aber dann sehr mich zu sehen und hat heute wiedereinmal die kneipige Heiserkeit über die recht verwaschene Stimme gelegt. Ohne weitere Umschweife erfahre ich, dass er heute die Krankengymnastik ausfallen lassen muss, „weil das Auge geht vor“. Ich bin mir nicht sicher, ob es nur im wörtlichen oder übertragenen Sinne gemeint war, jedenfalls kommt ein Auge tatsächlich hervor und ist schon erkennbar größer als das andere. Die ungewollte Ironie der Frage „Welches ist denn normal?“ von einer Tischnachbarin beim Mittagessen überhört er charmant und hat auch schon eine Diagnose parat. Beim Krustenbraten erfahre ich nun also schon zum dritten Mal, dass Herr Koslowski schon im Januar ein Geschwulst hinter dem Auge hatte und dies nun wahrscheinlich auch wieder operiert werden muss. Sein erschrockenes Gesicht verleit der ganzen Geschichte eine Dramatik, die ich über dem Essen fast nicht wahrgenommen hätte.
Ich bin beeindruckt, wie konsequent sich fast alle Gespräche um Krankheiten und Verletzungen drehen können, und wenn die eigenen Molesten nicht ausreichen um das Gespräch im Gang zu halten werden auch gerne einmal Erfahrungen von Verwandten und Freunden herbeigezogen. Wie gütig von Focus gerade jetzt „Der gesunde Rücken“ zum Titelthema zu küren. Die sensationellen Überschriften „Das empfindliche Gerüst – die Wirbelsäule“ oder noch einfallsreicher „Das Kreuz mit dem Kreuz“ bilden jedoch keine Diskussionsgrundlage, hier sitzen nämlich nur Experten zusammen, die nach dem Motto „learning by hearing“ ausgebildet wurden. Ich schleiche mich möglichst unauffällig hinaus und widme mich anderen Themen: Die Neue Frau berichtet vom Babyglück im dänischen Königshaus. Auch in Spanien liegt der gesamte Hofstaat „dem strahlenden Lächeln“ der Thronfolgerin zu Füßen. Unterbrochen wird meine Lektüre nur von der „dritten im Bunde“, die heute ihren Abschied mit besonders lauten Gekreische feiert und dies dem gesamten Haus mitteilt – wie der Herr Koslowski auch würde sie gern länger bleiben, darf aber leider nicht. Mir soll das recht sein. Hoffentlich werde ich am Ende nicht auch auf eine „Verlängerung“ hoffen.
Zurück zum Wesentlichen: Arztbesuch! Er wirft keinen Blick in meine Akte, ich erzähle fast schon routiniert die gesamte Geschichte, er dreht und drückt und ich sage aua. Dann nuschelt er in einem unglaublichen Tempo eine Mischung aus medizinischen Fachbegriffen, Abkürzungen und Zahlen in ein Diktiergerät. Auf meinen ungläubigen Blick, was man mit so einer Aufnahme noch anfangen soll erwidert er nur: „Ich fasse mich gern kurz. Und deutlich.“ Da ist er aber auch der einzige hier. Noch 10 Tage.
Völlig hilflos lag ich rücklings auf dem Boden mit den Beinen in der Luft und stemmte gleichzeitig mit Hilfe des Seilzugs armselige 15 Kilo in die Luft. Dann setzt sich der zu dem Zeitpunkt noch namenlose Seebär neben mich auf einen Gymnastikball, hält sich an der Sprossenwand fest und hüpft wie ein kleines Kind auf und ab. Für solche Aktionen hätte Zappelphilipp direkt ein paar hinter die Ohren bekommen. Hier handelt es sich aber nicht um einen hyperaktives Kind, sondern um einen geschätzten Mittsiebziger, und das auch noch aus der Bodenperspektive. Ich muss so herzlich in mich hinein lachen, dass das Gewicht mit einem lauten Scheppern zurück auf die anderen Scheiben fällt und meine Arme zwischen meinem Kopf und dem Seilzug platt auf dem Boden liegen. Herr Koslowski erschrickt kurz, freut sich aber dann sehr mich zu sehen und hat heute wiedereinmal die kneipige Heiserkeit über die recht verwaschene Stimme gelegt. Ohne weitere Umschweife erfahre ich, dass er heute die Krankengymnastik ausfallen lassen muss, „weil das Auge geht vor“. Ich bin mir nicht sicher, ob es nur im wörtlichen oder übertragenen Sinne gemeint war, jedenfalls kommt ein Auge tatsächlich hervor und ist schon erkennbar größer als das andere. Die ungewollte Ironie der Frage „Welches ist denn normal?“ von einer Tischnachbarin beim Mittagessen überhört er charmant und hat auch schon eine Diagnose parat. Beim Krustenbraten erfahre ich nun also schon zum dritten Mal, dass Herr Koslowski schon im Januar ein Geschwulst hinter dem Auge hatte und dies nun wahrscheinlich auch wieder operiert werden muss. Sein erschrockenes Gesicht verleit der ganzen Geschichte eine Dramatik, die ich über dem Essen fast nicht wahrgenommen hätte.
Ich bin beeindruckt, wie konsequent sich fast alle Gespräche um Krankheiten und Verletzungen drehen können, und wenn die eigenen Molesten nicht ausreichen um das Gespräch im Gang zu halten werden auch gerne einmal Erfahrungen von Verwandten und Freunden herbeigezogen. Wie gütig von Focus gerade jetzt „Der gesunde Rücken“ zum Titelthema zu küren. Die sensationellen Überschriften „Das empfindliche Gerüst – die Wirbelsäule“ oder noch einfallsreicher „Das Kreuz mit dem Kreuz“ bilden jedoch keine Diskussionsgrundlage, hier sitzen nämlich nur Experten zusammen, die nach dem Motto „learning by hearing“ ausgebildet wurden. Ich schleiche mich möglichst unauffällig hinaus und widme mich anderen Themen: Die Neue Frau berichtet vom Babyglück im dänischen Königshaus. Auch in Spanien liegt der gesamte Hofstaat „dem strahlenden Lächeln“ der Thronfolgerin zu Füßen. Unterbrochen wird meine Lektüre nur von der „dritten im Bunde“, die heute ihren Abschied mit besonders lauten Gekreische feiert und dies dem gesamten Haus mitteilt – wie der Herr Koslowski auch würde sie gern länger bleiben, darf aber leider nicht. Mir soll das recht sein. Hoffentlich werde ich am Ende nicht auch auf eine „Verlängerung“ hoffen.
Zurück zum Wesentlichen: Arztbesuch! Er wirft keinen Blick in meine Akte, ich erzähle fast schon routiniert die gesamte Geschichte, er dreht und drückt und ich sage aua. Dann nuschelt er in einem unglaublichen Tempo eine Mischung aus medizinischen Fachbegriffen, Abkürzungen und Zahlen in ein Diktiergerät. Auf meinen ungläubigen Blick, was man mit so einer Aufnahme noch anfangen soll erwidert er nur: „Ich fasse mich gern kurz. Und deutlich.“ Da ist er aber auch der einzige hier. Noch 10 Tage.
II. Eine Nachricht vom Boss
TAG VIER. „MTT“: medizinische Trainingstherapie, also der Fitnessraum. Ich gucke ins Leere, pumpe vor mich hin und denke halbherzig darüber nach, ob den vielleicht auch meine Oberarme von den ganzen Stabilisierungsübungen profitieren könnten. Graue Tristesse. Und plötzlich so etwas: Das ranzige Gedudel des Radios wird unterbrochen, nicht von Werbung oder Nachrichten - ja, der schwarze Schwan vom Aasee wird heute in den Zoo gebracht - sondern von Bruce Springsteen! Wahrhaftig, der Boss, hier bei mir. Schon nach zwei Akkorden erkenne ich das Lied: „Waiting on a sunny Day“, das kann kein Zufall sein, irgendjemand will mir ein Zeichen geben! Ich kenne den Text auswendig, trotzdem höre ich angestrengt zu, um das Zeichen zu erkennen. Vielleicht das:
„I thought I felt a sweet summer breeze/
Must have been you sighin' so deep”
Könnte passen, hier wird viel geseufzt, aber im Wortschatz meiner Leidensgenossen gibt es keine süße Brise, sondern nur Zug. Also Fenster zu! Das war nichts. Ich warte den Refrain ab, auch die zweite Strophe – nichts, was ich als Zeichen erkennen könnte. Jetzt aber, die dritte Strophe, ganz allein für mich geschrieben:
“Hard times baby, well they come to tell us all/
Sure as the ticking of the clock on the wall”
Das ist es! Die schweren Zeiten – keine Frage. Die tickende Uhr an der Wand – direkt vor mir oder ist damit das gleichmäßige Pumpen der Stromtherapiemaschine gemeint? Egal, wahrscheinlich beides, damit ich dieses Zeichen auch wirklich erkenne. Und, wie geht es weiter?
“Your smile, girl, brings the morning light to my eyes”
Oh, nein. Damit kann ja nur wieder meine kleine osteuropäische Freundin gemeint sein, die mich zur Begrüßung im Bewegungsbad neuerdings gleich zweimal grüßt. Wahrscheinlich kommt sie durch das ekelhaft warme, therapeutische Wasser erst so richtig in Fahrt. Auf dieses Zeichen hätte ich auch verzichten können. Ihre Taktik habe ich jetzt aber durchschaut. Sie lockt ihr Opfer – diesmal eine dritte im Bunde, die sich die letzten beiden Tage sehr bedeckt gehalten hat – mit der harmlosen Frage „Wie isses denn?“, nur um nach einer verhaltenden Antwort loszulegen und ihr Opfer wieder mit ihrer Krankenakte zu erschlagen. Die heutige Variation der Geschichte besteht darin, dass auch die Krankenakte ihres Mannes zur Sprache kommt. Mein anfängliches Mitleid für die Angesprochene erweist sich als völlig überflüssig: Sie scheint sich in den letzten Tagen nur geschont zu haben und hält dagegen! Und nicht nur das, sie hebt das Gespräch auf eine ganz andere Ebene. Jetzt werden die verschiedenen Ärzte und Rehazentren in Münster diskutiert. Ich halte mich vornehm zurück und merke, dass die kleine Osteuropäerin, die ihren Kopf gerade so über Wasser halten kann, ganz verblüffende Ähnlichkeit mit einer Schildkröte hat.
Die Gesprächsführung lässt sie sich jedoch nicht so ohne weiteres abnehmen und schlägt bei Mittagessen zurück. Ich schaufele eilig die schon klein geschnittenen Nudeln in mich hinein und höre von rechts eine spannenden Aufzählung, was genau sie in ihren ganzen Leben alles so hochgehoben hat, vom Schulranzen bis zu den Akten im Büro – eine beeindruckende Leistung, ich bin fasziniert! Ich erfreue mich an der Schildkröten-Ähnlichkeit und gucke herum, wer noch so da ist. Mir gegenüber nippt eine süße alte Dame an einer Suppe und ist beeindruckt, welche Mengen „die jungen Leute“ so essen können. Daneben ein alter Matrose, der die gesamten Unterarme tätowiert hat und über 100 Kilo gewogen hat, wovon man aber nichts sieht. Jedenfalls hat er Bandscheibe, seine Frau hat Hüfte. Diese schneidigen Formulierungen können nur noch vom Imbissdeutsch übertroffen werden: „Ich bin das Schnitzel“. Um die Runde zu komplettieren sitzt neben mir noch eine Frau, von der ich aber nur Geräusche vernehme, auf die nach meiner Erfahrung Dittsches Hinweis „das perlt“ folgen müssten. Guten Appetit! Ich sage weiterhin nichts, nicke freundlich und denke „Durchhalten Peter, achte nicht auf Zeichen. Ohren zu und durch“. Und was gibt mir Bruce Springsteen noch mit auf den Weg? Ich muss lange im Gedächtnis kramen und darauf zu kommen: „No surrender“! Noch 11 Tage.
„I thought I felt a sweet summer breeze/
Must have been you sighin' so deep”
Könnte passen, hier wird viel geseufzt, aber im Wortschatz meiner Leidensgenossen gibt es keine süße Brise, sondern nur Zug. Also Fenster zu! Das war nichts. Ich warte den Refrain ab, auch die zweite Strophe – nichts, was ich als Zeichen erkennen könnte. Jetzt aber, die dritte Strophe, ganz allein für mich geschrieben:
“Hard times baby, well they come to tell us all/
Sure as the ticking of the clock on the wall”
Das ist es! Die schweren Zeiten – keine Frage. Die tickende Uhr an der Wand – direkt vor mir oder ist damit das gleichmäßige Pumpen der Stromtherapiemaschine gemeint? Egal, wahrscheinlich beides, damit ich dieses Zeichen auch wirklich erkenne. Und, wie geht es weiter?
“Your smile, girl, brings the morning light to my eyes”
Oh, nein. Damit kann ja nur wieder meine kleine osteuropäische Freundin gemeint sein, die mich zur Begrüßung im Bewegungsbad neuerdings gleich zweimal grüßt. Wahrscheinlich kommt sie durch das ekelhaft warme, therapeutische Wasser erst so richtig in Fahrt. Auf dieses Zeichen hätte ich auch verzichten können. Ihre Taktik habe ich jetzt aber durchschaut. Sie lockt ihr Opfer – diesmal eine dritte im Bunde, die sich die letzten beiden Tage sehr bedeckt gehalten hat – mit der harmlosen Frage „Wie isses denn?“, nur um nach einer verhaltenden Antwort loszulegen und ihr Opfer wieder mit ihrer Krankenakte zu erschlagen. Die heutige Variation der Geschichte besteht darin, dass auch die Krankenakte ihres Mannes zur Sprache kommt. Mein anfängliches Mitleid für die Angesprochene erweist sich als völlig überflüssig: Sie scheint sich in den letzten Tagen nur geschont zu haben und hält dagegen! Und nicht nur das, sie hebt das Gespräch auf eine ganz andere Ebene. Jetzt werden die verschiedenen Ärzte und Rehazentren in Münster diskutiert. Ich halte mich vornehm zurück und merke, dass die kleine Osteuropäerin, die ihren Kopf gerade so über Wasser halten kann, ganz verblüffende Ähnlichkeit mit einer Schildkröte hat.
Die Gesprächsführung lässt sie sich jedoch nicht so ohne weiteres abnehmen und schlägt bei Mittagessen zurück. Ich schaufele eilig die schon klein geschnittenen Nudeln in mich hinein und höre von rechts eine spannenden Aufzählung, was genau sie in ihren ganzen Leben alles so hochgehoben hat, vom Schulranzen bis zu den Akten im Büro – eine beeindruckende Leistung, ich bin fasziniert! Ich erfreue mich an der Schildkröten-Ähnlichkeit und gucke herum, wer noch so da ist. Mir gegenüber nippt eine süße alte Dame an einer Suppe und ist beeindruckt, welche Mengen „die jungen Leute“ so essen können. Daneben ein alter Matrose, der die gesamten Unterarme tätowiert hat und über 100 Kilo gewogen hat, wovon man aber nichts sieht. Jedenfalls hat er Bandscheibe, seine Frau hat Hüfte. Diese schneidigen Formulierungen können nur noch vom Imbissdeutsch übertroffen werden: „Ich bin das Schnitzel“. Um die Runde zu komplettieren sitzt neben mir noch eine Frau, von der ich aber nur Geräusche vernehme, auf die nach meiner Erfahrung Dittsches Hinweis „das perlt“ folgen müssten. Guten Appetit! Ich sage weiterhin nichts, nicke freundlich und denke „Durchhalten Peter, achte nicht auf Zeichen. Ohren zu und durch“. Und was gibt mir Bruce Springsteen noch mit auf den Weg? Ich muss lange im Gedächtnis kramen und darauf zu kommen: „No surrender“! Noch 11 Tage.
I. Willkommen in der Reha
TAG ZWEI. Es ist mein zweiter Tag. Ich habe nun schon eine Idee, wo ich hingehen muss, wenn mein Plan als nächsten Programmpunkt „MTT“ ankündigt. Sogar an die Tatsache, dass ich die Alterstruktur im ambulanten Reha- Zentrum gehörig durcheinander bringe, habe ich mich fast gewöhnt.
Beim Warten auf „Phy“ widme ich mich der Frage, ob es hier überhaupt möglich ist, die anderen Humpelbeine unverkrampft grüßen zu können, ohne direkt ein Gespräch aufgezwungen zu bekommen. Bei einer Dame erübrigen sich derartige Gedanken. Sie ist der Meinung, dass zwei gemeinsame Sitzungen im Bewegungsbad ein derartiges Vertrauensverhältnis begründen, dass ich eine ausführliche Version ihrer Krankenakte mit osteuropäischem Akzent erzählt bekomme. Entsetzlich, was die zierliche Frau für Schmerzen hat – sind wir nicht alle aus dem gleichen Grund hier? Immerhin befinden wir uns in höfischer Gesellschaft: Der Kaiser Franz Beckenbauer hat auch „höllische“ Schmerzen im Lendenwirbelbereich und drückt sich vor einer Operation, wie die Freizeit Revue weiß. Und überhaupt: Auch die Cousine von Gunter Sachs hat es schlimm erwischt. Genauer gesagt eine Schlammlawine hat sie und ihren Wagen erwischt. Das Goldene Blatt und Neue Revue berichten „exklusiv“ über den tragischen Tod. Bei solchen Berichten freut man sich natürlich doppelt über gute Nachrichten. Zum Beispiel, dass wenigstens der Teufelsgeiger André Rieu trotz permanenten Reisen und zahlreicher weiblicher Fans seiner Frau Marjorie treu ist. Mittlerweile ist meine redselige Begleiterin bei der Krankenakte ihrer Tochter angekommen. Warum schaut sie beim Reden immer mich an und nicht den Mann gegenüber, der sich demonstrativ wegdreht und das Kinn auf seine Krücken legt? Wahrscheinlich waren die beiden noch nicht zusammen im Wasser!
Für mein freundliches Nicken werde ich dann endlich belohnt, besser: erlöst. Einfach nur rumliegen, eine halbe Stunde unter der Wärmelampe liegen mit Saugnäpfen auf dem Rücken, die kleine Stromstöße angeben. Die gleichmäßige Pumpen des Geräts ist eine wahre Wohltat nach der Plauderei. Ein fieses Piepen reißt mich aus der Entspannung heraus und scheucht mich in die Mukkibude. Falsch, in einer Mukkibude lehnen weniger Krücken an den Wänden und der Altersschnitt wird auch unter 70 liegen. Immerhin stehen hier Geräte herum, wie sie auch in Fitnessstudios zu finden sind. Nach vier Minuten und 23 Sekunden auf dem Fahrrad erschrecke ich: Meine alte Bekannte ist auch auf dem Weg zu den Rädern. Instinktiv trete ich schneller in die Pedale, komme aber natürlich kein Stück voran. Doch alles wendet sich zum Guten; sie setzt sich auf ein Gerät in der Reihe vor meinem – ich sitze in der hinteren Reihe ganz außen – so dass ein Gespräch unmöglich ist. Stattdessen wendet sie sich ihrem gegenüber auf der Beinpresse zu, der die Frage nach dem Befinden mit einem äußerst einfallsreichen „Muss ja!“ beantwortet. Im Abgang zu dem Sitzbällen folgt noch ein „Dann mal an die Arbeit“, was zu meinem Unverständnis für Erheiterung auf den vorderen Plätzen sorgt.
Hoffentlich habe ich wenigstens beim Mittagessen meine Ruhe. Ein neuer Versuch, Begrüßung: „Herr Lohmann? Für Sie gibt es heute Hackbraten; ich hoffe, dass ist in Ordnung. Für morgen können sie hier auswählen, einfach in die Liste eintragen.“ Klare Ansage, na dann. Mit Blick auf den Parkplatz futtere ich fleißig vor mich hin, bis ich von einem „Ist kalt geworden“ aufgeschreckt werde. Meine Nachbarin, die ihre weißen Haare unter einer pechschwarzen Färbung zu verstecken versucht, eröffnet so die zweite Erzählstunde für mich. Und schnell wird mir klar, warum es gerade Hackbraten gibt – „Ich kann ja nicht mehr beißen“. Na dann hoffe ich, dass die Fruchtstücke im Apfelkuchen von ihrer Tochter heute Nachmittag nicht zu groß werden. Der Hackbraten schmeckt wirklich gut, aber der Appetit lässt nach bei dem Anblick des Hausmeisters, der aus seinem Auto steigt mit einem brandneuen Toilettendeckel „weiß/ soft“ unter dem Arm. Noch schnell einen Apfel hinterher und schon geht es weiter. Mein Plan sagt mir nur noch „KG“ um 13 Uhr und „Arzt“ um 14 Uhr voraus. Und 13 weitere Tage.
Beim Warten auf „Phy“ widme ich mich der Frage, ob es hier überhaupt möglich ist, die anderen Humpelbeine unverkrampft grüßen zu können, ohne direkt ein Gespräch aufgezwungen zu bekommen. Bei einer Dame erübrigen sich derartige Gedanken. Sie ist der Meinung, dass zwei gemeinsame Sitzungen im Bewegungsbad ein derartiges Vertrauensverhältnis begründen, dass ich eine ausführliche Version ihrer Krankenakte mit osteuropäischem Akzent erzählt bekomme. Entsetzlich, was die zierliche Frau für Schmerzen hat – sind wir nicht alle aus dem gleichen Grund hier? Immerhin befinden wir uns in höfischer Gesellschaft: Der Kaiser Franz Beckenbauer hat auch „höllische“ Schmerzen im Lendenwirbelbereich und drückt sich vor einer Operation, wie die Freizeit Revue weiß. Und überhaupt: Auch die Cousine von Gunter Sachs hat es schlimm erwischt. Genauer gesagt eine Schlammlawine hat sie und ihren Wagen erwischt. Das Goldene Blatt und Neue Revue berichten „exklusiv“ über den tragischen Tod. Bei solchen Berichten freut man sich natürlich doppelt über gute Nachrichten. Zum Beispiel, dass wenigstens der Teufelsgeiger André Rieu trotz permanenten Reisen und zahlreicher weiblicher Fans seiner Frau Marjorie treu ist. Mittlerweile ist meine redselige Begleiterin bei der Krankenakte ihrer Tochter angekommen. Warum schaut sie beim Reden immer mich an und nicht den Mann gegenüber, der sich demonstrativ wegdreht und das Kinn auf seine Krücken legt? Wahrscheinlich waren die beiden noch nicht zusammen im Wasser!
Für mein freundliches Nicken werde ich dann endlich belohnt, besser: erlöst. Einfach nur rumliegen, eine halbe Stunde unter der Wärmelampe liegen mit Saugnäpfen auf dem Rücken, die kleine Stromstöße angeben. Die gleichmäßige Pumpen des Geräts ist eine wahre Wohltat nach der Plauderei. Ein fieses Piepen reißt mich aus der Entspannung heraus und scheucht mich in die Mukkibude. Falsch, in einer Mukkibude lehnen weniger Krücken an den Wänden und der Altersschnitt wird auch unter 70 liegen. Immerhin stehen hier Geräte herum, wie sie auch in Fitnessstudios zu finden sind. Nach vier Minuten und 23 Sekunden auf dem Fahrrad erschrecke ich: Meine alte Bekannte ist auch auf dem Weg zu den Rädern. Instinktiv trete ich schneller in die Pedale, komme aber natürlich kein Stück voran. Doch alles wendet sich zum Guten; sie setzt sich auf ein Gerät in der Reihe vor meinem – ich sitze in der hinteren Reihe ganz außen – so dass ein Gespräch unmöglich ist. Stattdessen wendet sie sich ihrem gegenüber auf der Beinpresse zu, der die Frage nach dem Befinden mit einem äußerst einfallsreichen „Muss ja!“ beantwortet. Im Abgang zu dem Sitzbällen folgt noch ein „Dann mal an die Arbeit“, was zu meinem Unverständnis für Erheiterung auf den vorderen Plätzen sorgt.
Hoffentlich habe ich wenigstens beim Mittagessen meine Ruhe. Ein neuer Versuch, Begrüßung: „Herr Lohmann? Für Sie gibt es heute Hackbraten; ich hoffe, dass ist in Ordnung. Für morgen können sie hier auswählen, einfach in die Liste eintragen.“ Klare Ansage, na dann. Mit Blick auf den Parkplatz futtere ich fleißig vor mich hin, bis ich von einem „Ist kalt geworden“ aufgeschreckt werde. Meine Nachbarin, die ihre weißen Haare unter einer pechschwarzen Färbung zu verstecken versucht, eröffnet so die zweite Erzählstunde für mich. Und schnell wird mir klar, warum es gerade Hackbraten gibt – „Ich kann ja nicht mehr beißen“. Na dann hoffe ich, dass die Fruchtstücke im Apfelkuchen von ihrer Tochter heute Nachmittag nicht zu groß werden. Der Hackbraten schmeckt wirklich gut, aber der Appetit lässt nach bei dem Anblick des Hausmeisters, der aus seinem Auto steigt mit einem brandneuen Toilettendeckel „weiß/ soft“ unter dem Arm. Noch schnell einen Apfel hinterher und schon geht es weiter. Mein Plan sagt mir nur noch „KG“ um 13 Uhr und „Arzt“ um 14 Uhr voraus. Und 13 weitere Tage.
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