TAG VIERZEHN. Herbert Grönemeyer singt, dass man auf Freunde zählen kann. „Freunde in der Not“, weiß Helge Schneider, „Freunde brauchen von andern kein Brot“. Auch Matthias Reim und Pur schätzen Freundschaften und sogar Franz Beckenbauer ist klar, dass gute Freunde von niemandem getrennt werden können. Vom Kaiser zur Queen ist es auch nicht weit, deshalb nur kurz nebenbei: Laut Das neue Blatt hat auch sie einen Bandscheibenvorfall und leidet unter höllischer Schmerzen. Die Gute würde auch in diesen Laden prima hineinpassen! Doch zurück zu den guten Freunden. Bei aller Freundschaft kann man doch niemandem zumuten ins Bewegungsbad oder auf den Schlingentisch mitzukommen. Also muss ich mir wohl oder übel innerhalb der Kaserne Verbündete suchen. Na dann mal los!
Da wäre zunächst der immerskeptische Fußballfachmann, aber die Gespräche mit ihm könnten auf Dauer etwas uninspiriert werden. Frau Günther, mit der ich die Fahrgemeinschaft bilde? Nicht übel, aber etwas schreckhaft und humorlos. Nachdem sie ein zugegeben gewagtes Manöver der Taxifahrerin mit einem spitzen Schrei und Festklammern an ihrem Sitz kommentierte, begründete die miserable Taxifahrerin ihren Fahrstil: So würden wir wenigsten wach und munter bei der Reha erscheinen. Das fand Frau Günther im Gegensatz zu mir gar nicht lustig. Auch der Simulant Herr Tebel scheidet als potentieller Freund aus: Wenn er so vor mir läuft fällt auf, dass er seiner Krücke auf der falschen Seite benutzt, gar nicht auf der Seite seiner Beschwerden – meine Krankengymnastin bestätigt meine Annahme mit einem prustenden Lachen. Zudem ist er ja auch ein halbes Jahrhundert älter ich. Aus der Generation kommt auch die kleine osteuropäische Schildkröte, die nach eine Woche Abwesenheit zu meinem Entsetzen wieder aufgetaucht ist. So wie sie mich anstrahlt scheint sie mich wirklich vermisst zu haben. Ich grüße kurz und sachlich und gehe sehr bestimmt weiter zu meinem Stammplatz im Bewegungsbad. Auch sie wäre als dauerhafte Verbündete nicht zu ertragen. Vielleicht gegenüber: Herr Legros, der sich, aufgrund seiner 28 Jahre im Polizeidienst, nach eigenen Angaben die Reha mehr als verdient hat, absolviert seine Übungen synchron mit Frau Klaas. Sie wiederum ist unerträglich stolz, auf ihr Sportstudium, welches man ihr nicht jedoch ansieht, noch ein duales Studium im Betrieb ihrer Eltern zu satteln. Wie die beiden im Gleichschritt durch das Becken waten wirkt schon recht vertraut, deshalb verwundert es auch nicht, dass Manfred und Denise sich duzen. Ich halte mich da lieber vornehm heraus!
Übrig bleibt also nur noch der etwas verplante Typ in meinem Alter (!), der seine Übungen für sich, sehr konzentriert und ohne Plauderei mit anderen macht – sehr sympathisch. Irgendwann kommt er auf seinem imaginären Fahrrad vorbeigefahren und wir müssen uns gegenseitig auslachen, wie wir beide mit angestrengten Gesichtern und Schwimmhilfen gegen das Untergehen ankämpfen – in einem 1,3 Meter tiefen Becken! Er hat sich beim Fußballspielen „Kreuzband geholt“, und so ist das erste Thema vorgegeben: Ich kläre ihn über die Großartigkeit des ruhmreichen SV Werder auf. Danach werden die verschiedenen Torturen der Reha diskutiert, das sorgt für so viel Erheiterung, dass der Pfleger vom Beckenrand anbietet zu unserem Sit-In noch ein paar Cocktails zu reichen. Ist er beleidigt, dass hier ausnahmsweise mal eine Party ohne ihn stattfindet? „Der Kreuzbandriss“, so kennt man sich hier, wiederum berichtet von höllischen Qualen bei der Krankengymnastik, so dass er schon darum gebeten hat in einer Einzelzelle behandelt zu werden, um die anderen Patienten von seinen schmerzerfüllten Schreien zu verschonen. Ich halte das für die übliche Übertreibung bei Gesprächen der Patienten untereinander, werde aber eines besseren belehrt. Während ich mich bei der Krankengymnastik bequem massieren lasse, werde ich Zeuge eines äußerst unterhaltsamen Hörspiels: Hinter der Stellwand, die meine Liege von der anderen trennt, hört man die Krankengymnastin in trockenem Befehlston „Weiter strecken, das ist noch gar nichts!“ und als Antwort unterdrückte Schreie und schmerzvolle Seufzer. Die Anweisungen der Pflegerin variieren nur minimal „Los jetzt, noch 20 Grad mehr im Knie“ oder „Stell dich nicht so an“ und lassen mich breit grinsen. Das wird aber sofort bestraft, denn die Folterung nebenan scheinen die Hände auf meinem Rücken auf falsche Gedanken zu bringen. Plötzlich ist der betroffene Nerv gefunden, fest gedrückt und ich gehe fast an die Decke vor Schmerz. Ich versuche gerade noch keine animalischen Schmerzlaute von mir zu geben, da werde ich mit folgendem Kommentar entgültig zur Strecke gebracht: „Wollen wir doch mal sehen, was wir aus dir so herausholen!“ Na prima, wie sagt man unter Freunden noch, „geteiltes Leid ist halbes Leid“. Noch einen Tag. Und zehn Tage Verlängerung.
VI. Gefesselt auf dem Schlingentisch

TAG ZWÖLF. Wie jeden Tag um diese Zeit wollte Peter L., ein ganz normaler Student aus Münster, sein harmloses Reha- Programm absolvieren, doch was an diesem Tag geschah entwickelte sich zu einem wahren Albtraum. Doch lassen wir ihn erzählen:
Eigentlich ist alles wie immer. Die Fahrgemeinschaft mit Frau Günther im Taxi funktioniert prima, auch wenn ich mir heute einen kleinen Rüffel abhole, weil ich erst zu verabredeten Zeit aus der Tür trete und nicht, wie anscheinend erwünscht, fünf Minuten früher. Die folgenden Neckereien wie „Gestern ist er wohl wieder spät in die Federn gekommen“ oder „Nächstes Mal möchte der Herr an der Tür abgeholt werden“, die Frau Günther lieber mit den Taxifahrer als mit mir bespricht, gehören ja zu einer solchen Beziehung dazu. Humor, da kann ich dem Augenzwinkern meiner Kollegin nur zustimmen, Humor gehört natürlich auch dazu – mehr als die gute Frau denkt! In der Umkleide wartet wie jeden Tag der süße Alte mit seinem neuen Knie auf mich, der sich immer wenn ich ihn sehe fast heimlich ein Bonbon in den Mund schiebt. Hier ist auch alles normal, wir besprechen wieder die kommenden Begegnungen der Fußballbundesliga und der Champions League, wobei die Rollen im Gespräch relativ klar verteilt sind. Nach dem üblichen „Ach, schon wieder hier“ und „wo geht’s denn jetzt hin?“ folgt seine Frage nach dem nächsten Gegner von Werder, Bayern, Schalke und der gesamten restlichen Fußballwelt. Ich freue mich riesig hier auch etwas für meinen Geist zu tun und zähle geduldig alle Spielpaarungen der nächsten Monate auf, nur um nach einem kurzen hin- und herwiegen des Kopfes sein Urteil zu vernehmen: „Na, das ham’ se auch noch nich’ gewonnen“. Das sagt er zu jeder Spielpaarung, ob es nun Werder gegen Aachen oder gegen Chelsea ist, Bayern gegen Moskau oder gar Gladbach gegen Hannover. Auch wenn die Favoritenrollen gar nicht eindeutig verteilt sind und es nicht klar wird, auf welche Mannschaft sich seine fachmännische Einschätzung bezieht ist die Antwort klar und immer gleich: „Das ham’ se auch noch nicht gewonnen.“ Natürlich nicht.
Später in der Muckibude bin ich kurzzeitig irritiert, als eine Pflegerin lautstark das am Boden liegende Opfer mit unverständlichen Fragen traktierte wie etwa „Wo ist dein Powerhouse“? Anscheinend war ich der einzige, der diese Geheimsprache nicht verstand, denn alle anderen radelten, stemmten und drückten mehr oder weniger verkrampft an ihren Maschinen herum, ohne sich auch nur im geringsten für das Powerhouse zu interessieren. Als das verlorene Haus wieder aufgetaucht und für die Beteiligten sichtbar geworden ist, konnte ich immer noch nichts erkennen und verlor das Interesse.
Soweit alles normal, keine große Aufregung. Diese bleibt auch aus, als ich mich auf den Schlingentisch in die Stufenlagerung begab, mit einem Heizkissen oder besser Wärmeträger, wie man in der Fachsprache sagt, am Rücken. Ich werde festgeschnallt, die Liege wird abgesenkt und von den Schultern abwärts hänge ich in der Luft. Das Buch in die Hand, dann ist die ganze Geschichte sehr entspannend. Das einige Problem dabei ist, dass der Raum etwas abseits liegt, die Uhr an der Wand nicht funktioniert und ich so festgeschnallt und aufgehängt recht unbeweglich bin. So liege ich also, entspanne und lese Seite um Seite, Kapitel um Kapitel und höre auf erste Anzeichen von Hunger, die mein Magen akustisch sendet. Hunger ist das Stichwort, denn als nächstes steht „Pause“ auf meinem Plan und das bedeutet Essen. Essen bedeutet heute Pizza. Also mein Magen knurrt weiter und ich denke, dass ich eigentlich genug gelesen habe und auch lang genug in der Luft gehangen habe. Doch Bene, der Fesselkünstler sieht das anscheinend anders und lässt mich noch etwas schmoren. Macht sich denn keiner Sorgen um mich? Es muss doch auffallen, wenn der „nette Junge Mann“ plötzlich nicht am Tisch sitzt und über das Wetter diskutiert. Oder Frau Günther, wenn sie allein im Taxi nach Hause fahren muss. Was bleibt mir anderes übrig als weiterzulesen und mir in der Hüftschnalle, die mich in der Luft hält, eine neue Kuhle zu formen, denn es wird wirklich unbequem. Und die Uhr geht nicht. Und ich habe Hunger. Und meine Pizza wird kalt. Und ich habe doch auch noch Krankengymnastik. Und der Raum ist so weit weg von allen anderen. Und ich bin bewegungsunfähig. Ich liege gefesselt in einem Kerker bei Neonlicht und leide vor mich hin. Langsam überkommt mich der Gedanke, dass das Wärmekissen über Nacht auskühlt und ich bei dem grellen Licht auch nicht schlafen kann, als plötzlich drei Personen gleichzeitig in die sorgenvolle Stille hineinplatzen. Nicht nur der Folterknecht Bene, auch meine Krankengymnastin und die Frau von der Essensausgabe. Ich wurde vergessen, dann vermisst und gesucht. Nach über einer Stunde, geplant war eine halbe, werde ich befreit! Die Pizza ist kalt, aber sonst ist alles gut. Noch drei Tage.
V. Man weiß ja nie

TAG ZEHN. Glücklich der Reha, dem Bewegungsbad und den Zeitschriften Gala, Neue Revue oder Das goldene Blatt entflohen zu sein setze ich mich zu Hause mit einem Tee in die Küche und versuche aus einem großen Stapel Zeitungen etwas Brauchbares herauszufischen. Völlig unschuldig greife ich die gestrige Ausgabe der Bild am Sonntag. Soll das schon wieder ein Zeichen für mich sein? Auf übernatürliche Zeichen wollte ich ja eigentlich nicht mehr achten, Bruce Springsteen war in der Hinsicht wenig aufbauend. Trotzdem, nach fünf Stunden in der Reha ist man froh über jede Ablenkung. Ich mache einen neuen Versuch machen und probiere es mit den Sternen. Zwar keine „Stars und Sternchen“, wie sie in Bunte zu finden sind, aber ein Horoskop. Das passt auf jeden Fall bestens in die Reha-Umgebung als Springsteen, noch dazu wenn es sich um ein Sporthoroskop handelt. Doch schon beim ersten Satz kommen mir Zweifel: „Der Löwe braucht den Wettkampf wie die Luft zum Atmen“. Handelt das von mir? Naja, weiterlesen. Der Löwe zieht „exklusive Sportarten“ vor: Golf, Segeln, Polo; die Skepsis blieb bestehen. Immerhin, zu meiner Beruhigung steht auch Skifahren in der Liste. Aber dann folgt ein Satz, der meine Einstellung zum Aberglauben der Horoskope grundlegend ändern soll: „Für den Alltag hält er sich mit einer speziellen Gymnastik fit, zwar nicht gern, aber aus tiefster Überzeugung, dass sonst der Rücken schmerzt.“ Wie wahr, wie wahr. Da hat mir BamS aus der Seele gesprochen – die Frage, ob das ein gutes oder schlechtes Zeichen ist lasse ich zunächst außer Acht, um weiterzulesen. „Im Fitness-Center nimmt er den Kampf mit den Maschinen auf. Überflüssig zu sagen, wer dabei gewinnt.“ Jawohl, 30 Kilo stemme ich am Seilzug – und wenn ich wollte könnte ich noch viel mehr! Die Analyse der BamS überzeugt mich vollends. Ich lese begeistert weiter: Der Bereich Sport ist abgehakt, nun geht es an die Voraussagungen. Ich wachse mit meinen Aufgaben und kann mich langsam an neue Herausforderungen wagen, heißt es zum Thema Beruf. So direkt hätte ich das Stemmen von Gewichten nicht als Beruf betrachtet, aber wenn ich es mir recht überlege verbringe ich im Moment eine ganze Menge Zeit damit. Jetzt aber mal zu den wirklich wichtigen Themen: Gesundheit. Mir wird versprochen, dass ein altes Zipperlein ausheilt – das wird auch höchste Zeit! Und die Liebe? „Ein gemütlicher und inniger Wochenbeginn“. Ja, um Punkt zehn Uhr wurde ich von der Taxifahrerin abgeholt, die extrem viel redet, dafür aber wenig verständlich ist. Ein Glück, dass die gute Frau Günther noch mit im Auto saß, wir haben schon eine richtige Fahrgemeinschaft gebildet! Das geht so weit, dass ich Frau Günther im Bewegungsbad schon die mal helfe, wenn sie mit den Schaumstoffnudeln überfordert ist. Im Gegensatz zu Frau Günther wirkt eine andere alte Dame im Bad eher unterfordert, während sie, auf der Nudel wie auf einem Schaukelpferd reitend, durch das Becken schiebt. Die unbedarfte Äußerung der Pflegerin über die Lautstärke im Bad hat sie anscheinend als Herausforderung aufgenommen. Der eigentlich harmlose Satz „Ist ja ganz schon ruhig hier heute“ mag für den ungeschulten Hörer eher harmlos klingen, zumal auch nur vier Personen im Wasser herumhampeln. Wenn sie nur geahnt hätte, was sie mit ihrem Satz auslösen würde. Die Reiterin beginnt sofort diesen konzentrierten Zustand zu ändern und berichtet aus ihrem, dem Leben ihrer gesamten Familie und überhaupt zu erzählen. Die Gründe, warum sie nie richtig schwimmen gelernt hat habe ich leider ebenso vergessen, wie das Jahr, indem sie die Schule gewechselt hat, jedenfalls gelangt sie in ihrem Vortrag auch irgendwie zum Amoklauf von Emsdetten. Über die Tragik dessen sind wir uns alle einig, der Herr Legros, seit 28 Jahren Polizeibeamter, kann sogar schon ein präzises Bild der gesellschaftlichen Zustände beschreiben: „Jetzt haben wir entgültig amerikanische Zustände!“ Aufgrund einer gewissen Betroffenheit und generellen Unlust zur vernünftigen Diskussion verkneife ich mir die Frage nach dem Maßstab der „amerikanischen Verhältnisse“. Frau Kolpig ist gedanklich sogar schon bei der Prävention. Mit Killerspielen hält sie sich gar nicht auf, sondern betont, dass sie ja bei Computern immer schon skeptisch war. Wenn das keine Lösung ist! Das allgemeine Misstrauen gegenüber der medialen Berichterstattung mit allen Gerüchten über Motive und Tathergang wird von allen Seiten mit einem vielsagenden „Man weiß ja nie“ ausgedrückt. Wunderschön, wie jeder diesen Satz wiederholt um schon beim Sprechen fast schon vergessen hat, worum es eigentlich geht.
Beim Mittagessen werden dann wieder seichtere Themen angesprochen. Frau Kolpig und Frau Busemeier können sich eine geschlagene Viertelstunde über die Wetterlage auslassen, während ich einer ähnlich unterhaltsamen CD lausche. Hits wie „Spaniens Gitarren“, „Lady Sunshine und Mister Moon“ oder „Liebling, mein Herz lässt dich grüßen“ reihen sich da aneinander. Da bin ich doch froh und erleichtert, wenn ich nach der Taxifahrt mit Frau Günther nun in der Küche sitze und die BamS auf den Haufen mit Altpapier werfen kann. Ein letzter Blick auf das Horoskop für Dienstag: „Es prickelt permanent“. Noch fünf Tage.
Abonnieren
Posts (Atom)